1_Blogbild Familienhörbuch

Letztes Jahr traf ich Harry Bannoehr von Scout Promotion auf der Frankfurter Buchmesse.
Mit leuchtenden Augen und stolzgeschwellter Brust erzählte er mir, dass er jetzt Sounddesigner beim Familienhörbuch sei. 

Ich kratzte mich fragend am Kopf und er ergänzte: “Stell dir vor, du bist ein Kind, das die Stimme seiner Mutter oder seines Vaters nie vergessen möchte, selbst wenn sie eines Tages nicht mehr da sind. Genau das ermöglicht das Familienhörbuch.”

‚Wie geil ist das denn!?‘, dachte ich und ließ mir das Projekt kurz erklären. 

Darüber wollte ich berichten und so sprach ich mit Carmen Deyer, die den Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Familienhörbuch betreibt und so bekam mehr Stoff für meinen Blogartikel.

Aber lies einfach selbst, wie genial und wertvoll das Projekt ist.

Wie alles begann                              

Wir schreiben das Jahr 2014.

Sandra ist die junge Mutter einer 9-jährigen.

Die 36-Jährige ist schwer krank.

Todkrank, um genau zu sein.

Es bleibt ihr nicht mehr viel Zeit.

Sie will ihrer Tochter ein ganz besonderes Geschenk machen und nimmt ein Hörbuch der besonderen Art auf.

Sie ist die Allererste.

Die allererste Palliativpatientin, die dem Familienhörbuch ihr Vertrauen schenkt und ihre Audiobiografie aufnimmt, so diese Idee bestärkt.

Sandra stirbt kurze Zeit später an Brustkrebs, doch ihre Stimme bleibt.

Es heißt, “Die Augen sind der Spiegel der Seele.” 

Für Judith Grümmer ist es die Kraft der Stimme, die die Seele widerspiegelt.

Judith ist Medizinjournalistin und Audiobiografin.

Judith Grümmer (Fotocredit M. Weigl)


Früher war sie für den Deutschlandfunk unterwegs.
Ob im Hospiz, unter der Brücke oder im Gefängnis.
Sie interessiert sich für das Leben von Menschen und gibt ihnen eine Stimme.
Sie ist eine Macherin.


Nach der Aufnahme mit Sandra ist sie bestärkt in ihrem Herzensprojekt und macht weiter.

Sie ist der Kopf vom Familienhörbuch. 


Die Idee   

Kinder hören im Bauch der Mutter zuerst die Stimmen von ihren Eltern.
Doch was ist, wenn ein Elternteil schon weiß, dass es bald stirbt?

Die Sorge, dass die eigene Stimme und man selbst in Vergessenheit gerät, kann sogar eine negative Auswirkung auf den Krankheitsverlauf haben. 

Beim Familienhörbuch handelt es sich deshalb aus meiner Sicht um ein besonders wertvolles Projekt, denn es nimmt einen Teil der Sorgen.
Betroffenen Eltern sprechen ihre Lebensgeschichte in Form eines Hörbuchs ein und den Kindern und Angehörigen wird ein sehr persönliches Vermächtnis der Erinnerung hinterlassen.


Was die betroffenen Eltern teilen, liegt ganz bei ihnen.
Einzelne Geschichten, Lachen,  Erinnerungen, Erfahrungen, Gefühle, Lieder, Gedichte und noch viel mehr finden auf dem Hörbuch Platz.
So entsteht ein einzigartiges und emotionales Erinnerungsstück, das nicht nur Trost spendet oder Mut macht, sondern auch hilft, die Familiengeschichte und die Identität der Betroffenen für die Kinder zu bewahren.

So ein Familienhörbuch kann zu einem sicheren auditiven Hafen für die Kinder werden und ist somit ein kostenloses Angebot, das auch eine Therapie begleiten kann.

Die Vision

Die Vision vom Familienhörbuch ist glasklar: „Wir bieten allen unheilbar und lebensverkürzt erkrankten Müttern und Vätern in Deutschland und Anrainerstaaten mit minderjährigen Kindern die für sie kostenfreie Erstellung einer professionellen Audiobiografie an.“ 



Die Bewerbung

Betroffene Familien können sich beim Familienhörbuch für ein eigenes Projekt bewerben.

Dazu füllen sie einen einfachen Fragebogen aus und machen u.a. Angaben zum Alter der Kinder und zur Krankheit des Elternteils. 

Diese Voraussetzungen müssen mindestens erfüllt sein, um ein Hörbuch aufnehmen zu können:

  1. Es liegt eine unumkehrbare, palliativ medizinische Diagnose vor.
  2. Die Kinder in den Familien sind unter 18 Jahre.
  3. Das Familienhörbuch verfügt aktuell über genug Spendengelder.

Die Entscheidung ist individuell und von der Situation abhängig.



Anschließend führt das Team des Familienhörbuchs ein ausführliches Vorgespräch mit den Betroffenen, um ihre Lebensgeschichte und die wichtigsten Themen zu besprechen. 

Dieses Gespräch bildet später die Grundlage für die Aufnahmen.

Der Auswahlprozess kann bis zu 3 Monate dauern – je nach Fortschritt der Krankheit.
Es gab aber auch schon eine Expressarbeit, bei der innerhalb von 48 Stunden eine Entscheidung fiel und der Audiobiograf am zweiten Weihnachtstag für das Interview losgefahren ist.

Wie entsteht ein Familienhörbuch?

Der Prozess, um ein solches Familienhörbuch zu erstellen, wird sorgfältig vorbereitet und emotional von ausgebildeten Audiobiograf:innen begleitet.

Betroffene Familien bewerben sich beim Familienhörbuch für ein eigenes Projekt. 

Wenn sie angenommen werden, wird anschließend ein:e geeignete:r Audiobiograf:in gefunden, um die Familie im Erstellungsprozess zu begleiten.

Während der Aufnahmen achten die Audiobiograf:innen darauf, dass die Atmosphäre entspannt und persönlich bleibt, damit sich die Erzählenden wohlfühlen.
Es wird großer Wert darauf gelegt, dass ganz authentisch erzählt wird.

Möglich wird dies beispielsweise durch ein Interview im vertrauten Umfeld, meist bei den Betroffenen zu Hause. Vorstellbar ist ein einfühlsamer Plausch am Küchentisch oder im Wohnzimmer, bei dem die Eltern Fotos ihrer Kinder vor sich haben.

Das Familienhörbuch
Aufnahmesituation (Fotocredit M. Weigl)


Das aufgenommene Audiomaterial wird anschließend professionell von Sounddesignern bearbeitet, geschnitten, mit Musik untermalt und in ein hochwertiges Hörbuch verwandelt. 

Wenn der Entwurf erstellt ist, kann die Familie nach dem Hören Änderungswünsche äußern, bspw. Kapitel kürzen, andere Musik wählen. Es können auch Kapitel mit einer Altersfreigabe versehen werden. Diese werden den Kindern dann erst später freigeschaltet.

Das fertige Hörbuch wird dann den Familien überreicht, sodass sie die Stimme und die Erinnerungen ihrer Liebsten bewahren können und die Kinder die Möglichkeit haben, mit den Eltern aufzuwachsen – nur anders als andere Kinder. 

Im 37 Grad-Beitrag “Mamas Stimme lebt” wird die Geschichte der 17-jährigen Pauline erzählt. Ihre Mutter Sandra starb als sie 9 Jahre alt war. Sie ist ohne Mama, aber mit Mamas Stimme aufgewachsen und empfand das Hörbuch als wertvolles Geschenk.            

                                            

Zahlen, Daten, Fakten

  • Judith Grümmer, eine erfahrene Journalistin, hat das Projekt ins Leben gerufen und leitet es bis heute.
  • 2014, im ersten Jahr, entstanden 7 Hörbücher, 2023 waren es 148 Hörbücher und im ersten Halbjahr 2024 wurden schon 100 Hörbücher aufgenommen.
  • Es gibt 3–16 Anfragen für eine Hörbuchproduktion in der Woche.
  • Bisher nehmen mehr Mütter als Väter ihr Familienhörbuch auf.
  • Die Hörbücher haben im Durchschnitt eine Länge von 6–7 Stunden. Das kürzeste Hörbuch ist weniger als eine Stunde lang, das Längste umfasst knapp 10 Stunden.


Um diese Arbeit zu stemmen braucht es ein engagiertes Team. 

Dazu zählen aktuell 7 festangestellte Mitarbeitende (Geschäftsführung, Assistenz der Geschäftsführung, Produktionsleitung, Buchhaltung, Fundraising, Öffentlichkeitsarbeit), 4 Psycholoonkolog:innen, über 90 Dienstleister:innen in der Produktion im Bereich Sounddesign und Autobiografie und 20 ehrenamtliche Mitarbeiter:innen. Sie alle bringen ihre Fachkenntnisse, wie beispielsweise im Bereich Tontechnik, Interviewführung oder Psychologie, ein, um die Betroffenen bestmöglich zu unterstützen.

Die Audiobiograf:innen werden 14 Tage lang ausgebildet, tragen die Kosten für die Ausbildung selbst und bringen einen journalistischen Background mit. 

Die Erstellung eines Hörbuchs dauert ca. 100 Arbeitsstunden und dafür braucht es Geld.

Das Famlienhörbuch wurde von der Uni Bonn drei Jahre lang wissenschaftlich begleitet.
Fazit: Weniger Depressionen und Ängste bei Betroffenen.

Das Familienhörbuch
Aufnahmesituation (Fotocredit M. Weigl)


Finanzierung

Das Projekt wird vollständig durch Spenden finanziert, die sowohl von Privatpersonen als auch von Förderorganisationen stammen.

Solange die Spendengelder ausreichen, bekommen betroffene Familien eine Zusage und die Hörbuchprojekte werden umgesetzt.  

Die Kosten pro Hörbuch belaufen sich auf ca. 6.000 Euro.

Gelder werden unter anderem durch Charity-Aktionen und das ganze Jahr über gesammelt.
Jeder Betrag zählt.

Wenn du das Projekt unterstützen möchtest, hast du die Möglichkeit via Paypal oder bei betterplace.org zu spenden.  

Warum das Familienhörbuch für alle Beteiligten wichtig ist

Das Familienhörbuch ist sowohl für Kinder als auch die Eltern von großer Bedeutung. 

Diese Gründe sind mir eingefallen: 

  1. Betroffene Eltern können aus dem Krankheitsalltag aussteigen.
    Sie beschäftigen sich mit anderen Themen und sich selbst.
    Sie können überlegen, was ihnen wichtig ist und was sie im Hörbuch an ihre Kinder weitergeben wollen. Die Krankheit nimmt nicht den gesamten Raum ein und sie können sich lebendig fühlen.
  2. Kinder können die Stimme ihres verstorbenen Elternteils bewahren, sich an sie erinnern, was eine tiefe emotionale Verbindung ermöglicht​.
  3. Das Hören der Geschichten und Erinnerungen ihrer Eltern kann Kindern dabei helfen, Zugang zur Trauerarbeit zu finden, den Verlust besser zu verarbeiten und Trost zu finden​. Das gilt auch für weitere Familienmitglieder, Angehörige und Freunde.
  4. Eltern geben durch das Erzählen von wichtigen Familienereignissen, Traditionen, Anekdoten und ihre Werte an ihre Kinder weiter und teilen wertvolle Erkenntnisse aus ihren Lebenserfahrungen.
  5. Durch die Geschichten, die im Familienhörbuch erzählt werden, bekommen die Kinder ein Gefühl für ihre Familiengeschichte und ihre Wurzeln, was ihnen Identität und Stabilität gibt​.
  6. Wichtige Erinnerungen und Momente werden für die Kinder bewahrt, an die sie sich ohne das Familienhörbuch nicht erinnern könnten.
  7. Kinder erhalten durch das Hören des Familienhörbuchs das Gefühl, dass ihre Eltern sie auch nach deren Tod im Leben begleiten und sie unterstützen.
  8. Für die Eltern bietet das Hörbuch die Möglichkeit, sich bewusst und in Ruhe von ihren Kindern zu verabschieden.
  9. Bei getrennt lebenden Eltern hat der sterbende Elternteil die Möglichkeit, die Paargeschichte aus der eigenen Perspektive zu erzählen, so dass das Kind später vielleicht besser verstehen kann, weshalb es zur Trennung kam. Die “Schuld” der Trennung kann nicht auf den gestorbenen Elternteil abgewälzt werden.



Diese Aspekte zeigen, wie wertvoll das Familienhörbuch für die emotionale und psychologische Entwicklung von Kindern sein kann und wie es gleichzeitig einen positiven Einfluss auf die restliche Lebenszeit der Eltern haben kann.

Wichtige Links

  1. In der Sendung SWR1 Leute: So begleitet die Palliativmedizin schwerstkranke Menschen gibt es ein Interview mit einer Krebspatientin und einem Palliativmediziner mit mehr Informationen. 
  2. Nicht für jede Familie passt das Familienhörbuch.
    Vielleicht sind die Kinder schon über 18 Jahre.
    Dann bietet z. B. das Projekt voicestories.de eine Möglichkeit, die eigene Stimme unsterblich zu machen. Darüber hinaus können mit den Aufklebern z. B. auch Fotoalben gestaltet werden.

Mein Fazit zum Familienhörbuch

Ich finde es schade, dass ein journalistischer Background Voraussetzung dafür ist, um als Audiobiograf:in für das Familienalbum tätig zu werden.

Menschen auf ihrem letzten Weg in dieser Form zu begleiten, hätte mich im Rahmen von Buchtherapie sehr interessiert.
Mein Presseausweis wird jedoch nicht ausreichen.
Die Ausbildung mache ich, wenn ich darf, trotzdem im nächsten Jahr.

Das Familienhörbuch ist aus meiner Perspektive “Das letzte Geschenk fürs Leben”, das sterbende Eltern ihren minderjährigen Kindern machen können.
Für beide Seiten ist es unendlich wertvoll.


Audiobiograf:innen sind wie Schatzsucherende.
Sie finden die Schätze in den Lebensgeschichten, bergen sie in kindgerechter Form und bringen diese Lebensschätze an die Oberfläche.

Die Sounddesigner öffnen die zusammengepackten Schatzkisten, unterteilen sie in einzelne Kapitel, unterlegen sie mit Musik und machen sie hörbar.

Eine sehr wertvolle und sinnstiftende Tätigkeit, die eine gesunde und professionelle Distanz zum Selbstschutz braucht.

“Mitfühlen und nicht mitleiden” heißt die Devise.

In einer Zeit, in der Erinnerungen so kostbar sind wie nie zuvor, schenkt das Familienhörbuch von schwerer Krankheit betroffenen Familien Trost, Mut und das Gefühl, auch nach dem Tod weiter präsent zu sein. 

Das Familienhörbuch
Erinnerungen (Fotocredit M. Weigl)


Möge Judith Grümmer mit ihrem Team das Leben vieler Familien berühren und verändern.

Und du? 

Ganz allgemein gefragt: wäre so ein Familienhörbuch als Form der Buchtherapie für dich eine gängige Alternative zu einem gedruckten Buch?

Lass mir gerne deinen Kommentar da.

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