Obduktion von Sternenkindern


Als Tanja von sternenkinder.org mir die Frage Obduktion von Sternenkindern, ja oder nein?rüberschickte war meine Impulsantwort „Im Leben nicht!“. Ich habe mich dann natürlich mit ihr zu diesem Thema ausgetauscht. Ihre Perspektive kann ich verstehen.

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Worum geht es bei der Reihe Blickwinkel? Auf ein und dieselbe Frage, in derselben Situation, gibt es unterschiedlichste Antworten. Auch wenn sich Sterneneltern in ähnlichen Lebensumständen befinden und sie ihre Sternenkinder aus dem gleichen Grund, vielleicht sogar in der gleichen Schwangerschaftswoche verabschiedet haben: Alle machen ihre ganz eigenen Erfahrungen.

So sind die Blickwinkelartikel entstanden: Tanja Wirnitzer hat über das Thema Sternenkinder viele Eltern kennengelernt und gemerkt, so sehr sie mit vielen auf einer Wellenlänge ist, so unterschiedlich ist doch die Art und Weise, wie die Paare mit der Situation umgehen. Sie wollte mehr erfahren und die Idee der Blickwinkelartikel war geboren.

Tanja Wirnitzer lädt alle dazu ein, die eigenen Blickwinkel zu teilen. Auf www.sternenkinder.org/Blickwinkel finden sich die Themen und an tanja@sternenkinder.org sendest du deinen Beitrag. Auch Ideen für neue Blickwinkelfragen sind jederzeit herzlich willkommen.

Heute teile ich mit dir meinen Blickwinkel zur Frage: Obduktion von Sternenkindern, ja oder nein?


Ich bin ein großer NCIS-Fan.
NCIS bedeutet Naval Criminal Investigative Service.
Bei der Serie geht es um Mordfälle, die dann von einem Navy-Spezialteam aufgeklärt werden.

Als Marineoffizier stehe ich da voll drauf und als ich noch aktiv bei der Marine war, sagte ich immer „Wenn ich mal ermordet werde, soll sich der NCIS drum kümmern!“.

Aber das ist ein anderes Thema.

Salopp gesagt bedeutet Obduktion für mich:

  1. Es liegt ein Todesfall vor und jetzt muss die Frage geklärt werden: War es Mord, ein Unfall oder ein natürlicher Tod?

  2. Wenn obduziert wird, bedeutet das für mich: aufschnippeln, wahlweise auch sägen – natürlich motorisiert, aufklappen, fragend reingucken, rausnehmen, rumschieben, rumdoktern, Aha-Moment haben und wieder zumachen. In dieser oder ähnlicher Reihenfolge.
    Vielleicht kennst du den Instagram-Account von Professor Dr. Michael Tsokos.
    Er ist der Leiter der Rechtsmedizin an der Charité.
    An ihn und seine Videos denke ich, wenn ich das Wort Obduktion höre.
    Da gibt es gerne mal eine Triggerwarnung zum Video.

  3. Im schlachthausähnlichen Bereich im Keller der Klinik stehen zwei vom ärztlichen Fachpersonal an einem Tisch, wuseln um den Körper herum, um ihre Arbeit zu erledigen und sprechen sehr sachlich, nüchtern – man will meinen unterkühlt – die Fakten in ein Mikrofon.
    Nebenbei besprechen sie ihre eigenen Konfliktthemen, die der Beruf oder die Beziehung mitbringt, was die einzigen Emotionen im Raum sind.


Das bedeutet Obduktion für mich.
Ich gebe zu, die Tatortfolter meines Vaters am Sonntagabend ging nicht spurlos an mir vorbei.



Mit den oben beschriebenen Bildern in meinem Kopf leuchtet es dir vielleicht ein, weshalb ich nur NEIN sagen konnte als ich für Loreley entscheiden musste.

Aus meinem Buch

In meinem Buch „Priorität Nr. 1 nach der stillen Geburt“ habe ich es so beschrieben:


Dienstag, 14. März 2023
Wir fahren ins Krankenhaus.

Ich werde untersucht und der gravierende Eingriff in unser aller Leben wird mit uns besprochen.

Ich unterschreibe unzählige Unterlagen.

  1. Bestätigung der Schwangeren bei der schriftlichen Feststellung einer medizinischen Indikation nach Ablauf der Bedenkzeit
  2. Ärztliches Dokumentationsformular bei dringendem Hinweis auf kindliche Gesundheitsschädigung bei PND
  3. Ärztliche schriftliche Feststellung einer medizinischen Indikation zum Schwangerschaftsabbruch nach § 218a Abs. 2 StGB

Ich werde aufgeklärt und bin überfordert.

Ich treffe weitere Entscheidungen und unterschreibe noch mehr Dokumente.

Genetische Untersuchung? Nein. Wozu auch?!

Pathologisch-anatomische Untersuchung? Nein. Niemand schneidet an Loreley herum.

Keine Kontrolle

Ich wollte Loreley nach der Geburt noch nicht mal zum Messen, Wiegen und Waschen weggeben. Natürlich tat ich es doch, aber mit den Fragen „Sie sind aber lieb und vorsichtig mit ihr, oder? Und Sie geben sie mir sofort wieder, ja?“

Wenn ich einer Obduktion zugestimmt hätte, hätte ich keine Kontrolle darüber gehabt, wer wie mit meinem Baby umgeht.

Abgesehen davon, war für mich klar, dass weder ein Mord noch ein Unfall noch ein natürlicher Tod vorlag.
Es war offensichtlich, weshalb Loreley zum Sternenkind wurde.

AHA-Moment


Ich hatte einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen, weil Loreley Spina bifida hatte.
Dies war offensichtlich.
Beim Ultraschall und auch nach der Geburt war sehr deutlich zu erkennen gewesen, was von einem gesunden Körper und einer regulären Entwicklung abwich.
Da brauchte es keine Obduktion.

Bei anderen Fällen kann die Argumentation anders aussehen.
Ich bleibe an der Stelle ganz bei mir und Loreley.

Du könntest jetzt argumentieren „Mit der Obduktion würdest du aber die Wissenschaft und medizinischen Fortschritt unterstützen.“

Es ist nicht so, dass ich darüber nicht nachgedacht hätte.
Doch dieses Argument machte mich in meinem speziellen Fall megawütend.
Aber bevor ich dir sage, was mich so wütend machte, kläre ich dich kurz auf.

An dieser Stelle zitiere ich aus meinem Buch Schwere Entscheidungen leicht treffen*:

„Offener Neuralrohrdefekt ist als offener Rücken oder Spina bifida geläufiger. Es handelt sich um eine angeborene Fehlbildung der Wirbelsäule. Dabei schließt sich die Wirbelsäule oder das Schädeldach während der Schwangerschaft nicht vollständig. Eine Spina bifida kann nicht geheilt werden.

Fakten zu Spina bifida

  • Spina bifida tritt häufiger bei Mädchen als bei Jungen auf.
  • Die Diagnose wird meist nicht über den Rücken, sondern über die Fehlbildung im Gehirn getroffen.
  • Die genauen Ursachen von Spina bifida sind noch nicht bekannt. Es wird jedoch angenommen, dass sowohl die Genetik der Eltern als auch ein Mangel an Folsäure eine Rolle spielen.
  • Eine ausreichende Einnahme von Folsäure vor und während der Schwangerschaft kann das Risiko einer Spina bifida-Entwicklung beim Baby um bis zu 70 Prozent reduzieren. Leider hat das bei mir nicht gereicht. Statt der regulären Menge wurde mir geraten, die Dosierung auf 5 Milligramm Folsäure zu erhöhen – falls wir noch einen weiteren Versuch wagen würden, ein Baby zu bekommen.


Noch mehr Fakten

  • Menschen mit Spina bifida können eine Vielzahl von körperlichen Beeinträchtigungen haben, darunter Lähmungen, Blasen- und Darmprobleme sowie Skoliose, was eine dreidimensionale Krümmung der Wirbelsäule bedeutet. Bei unserer Diagnose stand fest, dass bei Loreley höchstwahrscheinlich Blase und Mastdarm betroffen waren. Die Wahrscheinlichkeit, dass der untere Bewegungsapparat betroffen sein würde, wurde mit sehr wahrscheinlich eingeschätzt.
  • Die meisten Menschen mit Spina bifida haben eine normale Intelligenz, können jedoch aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen Schwierigkeiten in bestimmten Bereichen haben. Ob unser Baby zu „den meisten Menschen“ gehören würde, konnte uns niemand sagen. „Und das wird auch kein Arzt tun“, sagte die Ärztin.
  • Es gibt keine Heilung für Spina bifida. Allerdings kann eine frühzeitige Diagnose und Behandlung die Symptome lindern. Spina bifida kann bereits während der Schwangerschaft operativ versorgt werden.
  • Die Behandlung von Spina bifida nach der Geburt kann eine Kombination aus Operationen, Physiotherapie, Ergotherapie und medizinischer Versorgung umfassen. Die Lebenserwartung von Menschen mit Spina bifida hat sich dank Fortschritten in der medizinischen Versorgung in den letzten Jahrzehnten erhöht.“

Punkt 4 ist mein Triggerpunkt und hier sehe ich eine Notwendigkeit für Veränderung.
Frauen wird empfohlen mindestens 12 Wochen vor der Schwangerschaft mit der Einnahme von Folsäure zu beginnen und diese bis zum Ende der 12 Schwangerschaftswoche fortzuführen.
Die reguläre Dosierung über entsprechende Standardprodukte liegt deutlich unter 5mg.

Da eine Einnahme von bis zu 5 mg unbedenklich ist, leuchtet mir nicht ein, weshalb Frauen mit Kinderwunsch nicht gleich zu einer Einnahme von 5mg pro Tag geraten wird.

Mir wurde das erst nach der Geburt von Loreley empfohlen.
Danke für gar nichts!
Das hat mich richtig wütend gemacht.

Wenn es noch keine Studie dazu gibt, dann sehe ich hier Handlungsbedarf.
Dafür braucht niemand an Loreley herumzuschnippeln.

Vielleicht haben wir stattdessen die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf unserer Seite.


Ja, ich kann das sehr gut verstehen.
Die Gründe dafür sind vielfältig und können wichtig für die dann bevorstehende Trauerarbeit sein.

In der Reihe Blickwinkel finden sich zum Thema Obduktion verschiedene Argumente.

Für mich ist ein wichtiger Punkt die Klärung der „Schuldfrage“ oder der Ursache.
Wer ist Schuld oder woran hat es gelegen?

Der Verstand braucht etwas, woran er sich festhalten kann.
Die Familien wollen verstehen, was nur schwer zu verstehen ist.
Ein Obduktionsergebnis mit entsprechenden Fakten kann bei der Trauerarbeit helfen.

Obduktion schwere Entscheidung


Wobei für mich fragwürdig ist, wie sich diese Fakten auf den Gemütszustand auswirken und ob die Situation dadurch nicht noch schwerer wird.

Möglicherweise kommen dann Antworten, die man gar nicht hören will: „Frau XY, die Obduktion hat ergeben, dass bei ihnen ein Gendefekt vorliegt. Deshalb ist ihr Kind gestorben.“
Betroffene haben im Anschluss an eine Obduktion also vielleicht mehr zu verdauen als ohne Autopsie.

Die Frage ist meines Erachtens: Was kann die eigene Seele verkraften?

Wie immer braucht es eine bewusste Entscheidung und den Umgang mit den jeweiligen (möglichen) Konsequenzen.

Hast du einen Blickwinkel zu diesem Thema?

Her damit!
Schreib deinen Blickwinkel in die Kommentare und/oder mach‘ einen Blogartikel daraus und schicke ihn an tanja@sternenkinder.org


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